
Entgegen der alten Vorstellung, dass Chirurgen Gewebe lediglich mechanisch „flicken“ und der Körper den Rest erledigt, ist die moderne Wundbehandlung ein aktiver Dialog mit der Biologie. Wir verstehen Heilung heute als einen Prozess, den wir gezielt choreografieren können. Statt passiv abzuwarten, setzen wir durch präzise Techniken, fortschrittliche Materialien und unterstützende Maßnahmen die richtigen Signale, um die körpereigene Regenerationsfähigkeit zu maximieren und das bestmögliche funktionelle und ästhetische Ergebnis zu erzielen.
Eine Wunde – sei es durch einen Unfall, eine Krankheit oder einen geplanten chirurgischen Eingriff – ist mehr als nur ein Defekt in der Haut. Sie ist eine tiefgreifende Störung des biologischen Gleichgewichts, die im Körper eine bemerkenswerte Kaskade von Reparaturprozessen auslöst. Als Chirurgen und Wundmanager sind wir täglich Zeugen dieser faszinierenden Fähigkeit zur Selbstheilung. Doch die traditionelle Sichtweise, den Körper einfach „heilen zu lassen“, greift oft zu kurz, besonders bei komplexen oder großen Wunden.
Die landläufige Meinung konzentriert sich oft auf einfache Maßnahmen wie das Säubern und Abdecken einer Wunde. Doch die moderne Chirurgie geht weit darüber hinaus. Wir sehen uns nicht mehr nur als Reparaturservice, sondern vielmehr als Regisseure eines biologischen Prozesses. Die wahre Kunst liegt nicht darin, eine Naht zu setzen, sondern darin, die körpereigenen Heilungskräfte zu verstehen, zu lenken und zu unterstützen. Es ist ein aktiver Dialog mit den Zellen, bei dem wir die richtigen Bedingungen schaffen, damit sie ihre Arbeit optimal verrichten können.
Dieser Artikel nimmt Sie mit auf eine Reise in die Welt der modernen Wundheilung. Wir werden erkunden, wie wir als Chirurgen die Heilung nicht nur abwarten, sondern sie aktiv gestalten – von der Korrektur unschöner Narben über den Einsatz von Hightech-Materialien bis hin zu komplexen Gewebetransfers, die Leben verändern können. Sie werden verstehen, warum die richtige Ernährung und das Wissen um Störfaktoren entscheidend sind und wie die rekonstruktive Chirurgie weit mehr als nur Schönheit wiederherstellt: Sie gibt Lebensqualität zurück.
Um die verschiedenen Facetten dieses komplexen Themas zu beleuchten, folgt dieser Artikel einer logischen Struktur. Von den Grundlagen der Narbenbehandlung über die Unterstützung des Heilungsprozesses bis hin zu den fortschrittlichsten chirurgischen Techniken, bietet der nachfolgende Überblick einen klaren Wegweiser durch die Kunst der Regeneration.
Inhaltsverzeichnis: Die Choreografie der chirurgischen Wundheilung
- Narbenkorrektur: Welche Möglichkeiten gibt es, um alte Narben zu verbessern?
- Schlechte Wundheilung: Ursachen und was Sie tun können, um den Prozess zu unterstützen
- Hightech-Pflaster: Wie moderne Wundauflagen die Heilung beschleunigen
- Haut auf Vorrat: Das faszinierende Prinzip der Gewebeexpansion in der plastischen Chirurgie
- Essen für die Heilung: Welche Nährstoffe Ihr Körper jetzt braucht, um Wunden zu reparieren
- Narbenkorrektur: Welche Möglichkeiten gibt es, um alte Narben zu verbessern?
- Gewebe auf Reisen: Wie Chirurgen mit Lappenplastiken große Defekte nach Tumor-OPs verschließen
- Mehr als nur Schönheit: Die lebensverändernde Kraft der rekonstruktiven Chirurgie
Narbenkorrektur: Welche Möglichkeiten gibt es, um alte Narben zu verbessern?
Jede Heilung hinterlässt eine Spur. Eine Narbe ist das sichtbare Zeichen eines abgeschlossenen Reparaturprozesses und besteht aus faserreichem Ersatzgewebe, dem Kollagen. Doch nicht jede Narbe ist gleich. Während manche nach Monaten kaum noch sichtbar sind, können andere wulstig (hypertrophe Narben), übermäßig wachsend (Keloide), eingezogen (atroph) oder schmerzhaft sein und die Funktion einschränken. Die landläufige Frage „Kann man Narben komplett entfernen?“ muss ehrlicherweise meist mit Nein beantwortet werden. Aber wir können ihr Erscheinungsbild entscheidend verbessern.
Die Grundlage der Narbenkorrektur ist eine genaue Analyse des Narbentyps und der zugrundeliegenden Ursache. Für einfache, aber breite oder unschön verlaufende Narben ist die chirurgische Narbenexzision oft die Methode der Wahl. Hierbei wird das alte Narbengewebe präzise entfernt und die Wunde unter idealen Bedingungen mit feinsten Nahttechniken spannungsfrei wieder verschlossen. Das Ziel ist, die ursprüngliche, unkontrollierte Heilung durch eine kontrollierte, ästhetisch optimierte Heilung zu ersetzen.
Bei hypertrophen Narben und Keloiden, die durch eine Überproduktion von Kollagen entstehen, kommen oft nicht-invasive oder minimal-invasive Verfahren zum Einsatz. Die Injektion von Kortikosteroiden direkt in das Narbengewebe kann die übermäßige Kollagenbildung hemmen und die Narbe flacher und weicher machen. Eine weitere etablierte Methode ist die Kompressionstherapie mittels Silikongelen oder -pflastern. Diese erzeugen ein feuchtes Milieu und leichten Druck, was die Neuorganisation des Kollagens positiv beeinflusst und die Rötung reduziert.
Schlechte Wundheilung: Ursachen und was Sie tun können, um den Prozess zu unterstützen
Der Körper ist ein Meister der Reparatur, doch dieser Prozess ist empfindlich und kann durch vielfältige Faktoren gestört werden. Eine verzögerte oder schlechte Wundheilung ist nicht nur frustrierend, sondern erhöht auch das Risiko für Infektionen und unschöne Narbenbildung. Die Anzeichen sind oft eindeutig: anhaltende Rötung und Schwellung, starke Schmerzen, übelriechendes Sekret oder eine Wunde, die sich nach Wochen einfach nicht schließt. Die Frage nach der Dauer der Heilung ist individuell, aber wenn nach 4-6 Wochen keine deutliche Besserung eintritt, sprechen wir von einer chronischen Wunde.
Die Ursachen lassen sich in zwei große Gruppen einteilen: lokale und systemische Faktoren. Zu den lokalen Störfaktoren gehören Infektionen durch Bakterien, eine unzureichende Blutversorgung (Ischämie) im Wundgebiet, anhaltender Druck auf die Wunde (z. B. bei bettlägerigen Patienten) oder Fremdkörper in der Wunde. Systemische, also den ganzen Körper betreffende, Ursachen sind noch vielfältiger. Krankheiten wie Diabetes mellitus, periphere arterielle Verschlusskrankheit (pAVK), chronische Veneninsuffizienz oder ein geschwächtes Immunsystem beeinträchtigen die Heilungsfähigkeit massiv. Ebenso spielen Lebensstilfaktoren wie Rauchen, eine Mangelernährung und übermäßiger Alkoholkonsum eine entscheidende Rolle, da sie die Durchblutung und die Nährstoffversorgung des Gewebes drosseln.
Die Unterstützung der Wundheilung ist daher ein zentraler Teil unserer Arbeit und beginnt mit der Beseitigung dieser Störfaktoren. Die Behandlung der Grunderkrankung, eine optimale Blutzuckereinstellung bei Diabetikern oder die Rauchentwöhnung sind oft die wirksamsten Maßnahmen. Als Patient können Sie den Prozess aktiv unterstützen, indem Sie auf eine ausgewogene Ernährung achten, die Wunde sauber halten und ärztliche Anweisungen zur Pflege und Entlastung genau befolgen. Ein proaktiver Ansatz ist der Schlüssel zur Vermeidung von Komplikationen.
Ihr Plan zur Unterstützung der Wundheilung: Eine Checkliste
- Störfaktoren identifizieren: Listen Sie alle bekannten Grunderkrankungen (z. B. Diabetes), Medikamente und Lebensstilgewohnheiten (Rauchen, Ernährung) auf, die die Heilung beeinflussen könnten. Besprechen Sie diese Liste mit Ihrem Arzt.
- Wundbeobachtung dokumentieren: Führen Sie ein einfaches Tagebuch. Notieren Sie täglich Größe, Farbe, Geruch und Sekretion der Wunde. Machen Sie eventuell Fotos, um den Verlauf objektiv zu bewerten.
- Therapietreue prüfen: Halten Sie sich exakt an die Anweisungen zur Wundreinigung, zum Verbandswechsel und zur Einnahme von Medikamenten? Überprüfen Sie, ob alle empfohlenen Materialien vorhanden sind.
- Ernährung bewerten: Analysieren Sie Ihre Mahlzeiten der letzten drei Tage. Enthalten sie ausreichend Proteine (Fleisch, Fisch, Hülsenfrüchte), Vitamin C (Zitrusfrüchte, Paprika) und Zink (Nüsse, Haferflocken)?
- Maßnahmenplan erstellen: Definieren Sie basierend auf den oberen Punkten 2-3 konkrete Maßnahmen. Beispiele: „Termin zur Blutzuckerkontrolle vereinbaren“, „Täglich eine proteinreiche Mahlzeit sicherstellen“, „Rauchstopp-Beratung anfragen“.
Hightech-Pflaster: Wie moderne Wundauflagen die Heilung beschleunigen
Die Zeit des einfachen, trockenen Pflasters ist längst vorbei. Moderne Wundauflagen sind keine passiven Abdeckungen mehr, sondern aktive Instrumente in der Choreografie der Heilung. Das grundlegende Prinzip, das hinter den meisten dieser Hightech-Pflaster steckt, ist die feuchte Wundheilung. Im Gegensatz zum alten Glauben, eine Wunde müsse an der Luft trocknen, wissen wir heute, dass ein feuchtes Milieu das ideale Klima für Zellwachstum, Zellwanderung und die komplexen biochemischen Prozesse der Heilung schafft. Schorfbildung wird verhindert, was die Bildung neuer Hautschichten (Epithelisierung) erleichtert und die Narbenbildung reduziert.
Je nach Wundphase und Zustand kommen unterschiedliche Materialien zum Einsatz, die spezifische Signale an das Gewebe senden. In der Reinigungsphase, wenn die Wunde von Belägen oder abgestorbenem Gewebe (Nekrosen) befreit werden muss, sind Alginate (aus Braunalgen gewonnen) oder Hydrofasern ideal. Sie können ein Vielfaches ihres Eigengewichts an Wundsekret aufsaugen und schließen Bakterien und Zelltrümmer sicher ein. In der Granulationsphase, wenn neues Bindegewebe aufgebaut wird, fördern Hydrokolloide oder Schaumstoffverbände das feuchte Milieu und schützen das empfindliche neue Gewebe vor mechanischer Belastung und Austrocknung.
Die Spitze der Entwicklung bilden sogenannte „intelligente“ oder bioaktive Wundauflagen. Einige enthalten Silberionen, die eine starke antimikrobielle Wirkung haben und bei infizierten oder infektionsgefährdeten Wunden eingesetzt werden. Andere sind mit Wachstumsfaktoren oder Kollagen beschichtet, um die Zellproliferation direkt anzuregen. Die Auswahl der richtigen Wundauflage ist eine Wissenschaft für sich und wird exakt auf die Bedürfnisse des Patienten und den Zustand der Wunde abgestimmt. Sie sind ein perfektes Beispiel für den Dialog mit der Biologie: Wir geben dem Körper genau das Werkzeug, das er in der jeweiligen Heilungsphase benötigt.
Haut auf Vorrat: Das faszinierende Prinzip der Gewebeexpansion in der plastischen Chirurgie
Was tun, wenn nach einem Unfall oder einer großen Tumoroperation ein erheblicher Haut- und Weichteildefekt zurückbleibt, der sich nicht einfach zunähen lässt? Eine der elegantesten und biologisch faszinierendsten Methoden der rekonstruktiven Chirurgie ist die Gewebeexpansion. Das Prinzip ist genial einfach und nutzt die natürliche Dehnbarkeit der Haut. Man kann es sich vorstellen, wie die Haut am Bauch einer schwangeren Frau, die sich über Monate hinweg anpasst und „wächst“. Genau diese Fähigkeit machen wir uns zunutze, um neue, körpereigene Haut zu „züchten“.
Dabei wird ein Silikonballon, der sogenannte Expander, in einer kleinen Operation unter die gesunde Haut in unmittelbarer Nähe des zu deckenden Defekts platziert. Dieser Expander besitzt ein kleines, unter der Haut liegendes Ventil. Über mehrere Wochen bis Monate hinweg wird der Ballon dann in regelmäßigen Abständen ambulant über dieses Ventil mit Kochsalzlösung aufgefüllt. Jeder Füllvorgang dehnt die darüber liegende Haut ein wenig mehr. Dieser konstante, sanfte Reiz ist ein starkes Signal für die Hautzellen, sich zu teilen und neues Gewebe zu bilden – ein Prozess, der als mechanische Transduktion bezeichnet wird.
Ist nach Abschluss der Expansion genügend neue Haut entstanden, erfolgt ein zweiter Eingriff. Der Expander wird entfernt, der Hautdefekt, zum Beispiel eine große Narbenfläche oder der Zustand nach einer Tumorentfernung, wird ausgeschnitten, und der entstandene Hautüberschuss wird wie ein maßgeschneiderter Lappen über den Defekt geschwenkt und vernäht. Der immense Vorteil dieser Methode: Die neue Haut ist körpereigen, hat die gleiche Farbe, Textur und Behaarung wie die umgebende Haut und verfügt über eine normale Sensibilität. Es ist die perfekte Lösung für Rekonstruktionen im Gesicht, am behaarten Kopf oder bei der Brustrekonstruktion, da sie ästhetisch unübertroffene Ergebnisse liefert.
Essen für die Heilung: Welche Nährstoffe Ihr Körper jetzt braucht, um Wunden zu reparieren
Die Wundheilung ist ein energetischer Kraftakt. Der Körper arbeitet auf Hochtouren, um neue Zellen zu bilden, Kollagen zu synthetisieren und Infektionen abzuwehren. Dieser Prozess hat einen enorm erhöhten Bedarf an spezifischen Bausteinen und Energie, der oft unterschätzt wird. Eine Operation oder eine große Wunde versetzt den Körper in einen Stresszustand, der den Stoffwechsel um bis zu 40 % steigern kann. Eine gezielte Ernährung ist daher kein optionales Extra, sondern ein fundamentaler Bestandteil der Wundtherapie.
Die wichtigsten Bausteine für die Gewebereparatur sind ohne Zweifel die Proteine (Eiweiße). Sie sind die Grundlage für die Bildung von Enzymen, Immunzellen und vor allem von Kollagen, dem Hauptbestandteil des neuen Gewebes. Ein Mangel an Proteinen führt unweigerlich zu einer verzögerten Heilung und einer schwachen Narbenbildung. Gute Quellen sind:
- Fleisch und Fisch
- Eier und Milchprodukte
- Hülsenfrüchte wie Linsen, Bohnen und Kichererbsen
- Nüsse und Samen
Neben den Proteinen spielen bestimmte Vitamine und Spurenelemente eine entscheidende Rolle als „Co-Faktoren“ im Heilungsprozess. Vitamin C ist unerlässlich für die Kollagensynthese – ohne es kann kein stabiles Narbengewebe aufgebaut werden. Es findet sich reichlich in Zitrusfrüchten, Paprika, Brokkoli und Beeren. Das Spurenelement Zink ist an über 300 enzymatischen Reaktionen beteiligt, viele davon direkt im Heilungsprozess, wie die Zellteilung. Vollkornprodukte, Fleisch und Nüsse sind gute Zinklieferanten. Schließlich ist auch Vitamin A wichtig für die Neubildung der Haut (Epithelisierung) und die Funktion des Immunsystems. Es ist in Karotten, Süßkartoffeln und grünem Blattgemüse enthalten. Eine ausreichende Flüssigkeitszufuhr, vorzugsweise Wasser oder ungesüßter Tee, ist ebenfalls essenziell, um die Nährstoffe zu den Zellen zu transportieren.
Narbenkorrektur: Welche Möglichkeiten gibt es, um alte Narben zu verbessern?
Über die grundlegenden Methoden hinaus bietet die moderne ästhetische Chirurgie ein Arsenal an fortschrittlichen Techniken, um das Erscheinungsbild von Narben weiter zu verfeinern. Diese kommen insbesondere dann zum Einsatz, wenn einfache Exzisionen oder Silikonpflaster nicht ausreichen, etwa bei eingesunkenen (atrophen) Narben, wie sie oft nach Akne auftreten, oder bei Narben mit auffälliger Textur und Farbe. Hier geht es darum, die Struktur und Qualität der Haut selbst zu verbessern.
Eine sehr effektive Methode ist die fraktionierte Lasertherapie. Dabei schießt ein Laser Tausende von mikroskopisch kleinen Kanälen in die Haut. Das umliegende Gewebe bleibt unverletzt. Diese Mikroverletzungen sind ein starkes Signal für den Körper, den Heilungsprozess neu zu starten und frisches, gesundes Kollagen zu produzieren. Das Narbengewebe wird dadurch von innen heraus umgebaut, was zu einer glatteren Oberfläche und einer Angleichung der Hautfarbe führt. Mehrere Sitzungen sind in der Regel erforderlich, um ein optimales Ergebnis zu erzielen.
Bei atrophen, also eingesunkenen Narben, hat sich die Kombination aus Microneedling und Eigenfett-Transfer (Lipofilling) bewährt. Beim Microneedling werden mit einem Dermaroller oder einem Pen feine Nadeln in die Haut eingebracht, um die Kollagenproduktion anzuregen. In einem zweiten Schritt kann der Volumendefekt unter der Narbe durch die Injektion von körpereigenem Fettgewebe, das zuvor an anderer Stelle (z.B. am Bauch) abgesaugt und speziell aufbereitet wurde, aufgefüllt werden. Das Eigenfett füllt nicht nur das fehlende Volumen auf, sondern enthält auch Stammzellen, die die Hautqualität nachhaltig verbessern. Diese Kombinationstherapien sind ein Paradebeispiel für die moderne, regenerative Herangehensweise in der Narbenbehandlung.
Gewebe auf Reisen: Wie Chirurgen mit Lappenplastiken große Defekte nach Tumor-OPs verschließen
Nach der Entfernung großer Tumoren, besonders im Kopf-Hals-Bereich oder an den Extremitäten, entstehen oft komplexe Defekte, die Haut, Muskeln und manchmal sogar Knochen umfassen. Ein einfaches Hauttransplantat reicht hier nicht aus, da es keine eigene Blutversorgung hat und kein Volumen bietet. Hier kommt die Königsdisziplin der rekonstruktiven Chirurgie ins Spiel: die Lappenplastik. Dabei wird ein ganzes Gewebepaket, bestehend aus Haut, Fettgewebe und oft auch Muskeln oder Knochen, von einer Körperstelle entnommen und zur Deckung des Defekts an eine andere Stelle „verpflanzt“.
Der Schlüssel zum Erfolg ist die Erhaltung der Blutversorgung. Bei der gestielten Lappenplastik bleibt das Gewebe über eine „Brücke“ (den Gefäßstiel) mit seiner ursprünglichen Blutversorgung verbunden und wird in die unmittelbare Nachbarschaft des Defekts geschwenkt. Die anspruchsvollere Variante ist die freie Lappenplastik. Hier wird das Gewebestück komplett von seinem Ursprungsort abgetrennt. Die versorgenden Arterien und Venen werden unter dem Operationsmikroskop mit einer Präzision im Sub-Millimeter-Bereich an die Blutgefäße in der Empfängerregion angeschlossen. Diese mikrochirurgische Gefäßanastomose ist eine hochkomplexe Technik, die es uns ermöglicht, Gewebe von weit entfernten Körperregionen (z.B. vom Unterarm oder Oberschenkel) zu transplantieren, um große Defekte im Gesicht zu rekonstruieren.

Wie die Abbildung zeigt, erfordert diese Technik höchste Präzision. Die Nahtfäden sind dünner als ein menschliches Haar. Dieser enorme Aufwand ermöglicht es uns, nicht nur Löcher zu füllen, sondern Funktionen wie das Schlucken oder Sprechen wiederherzustellen und ein ästhetisch ansprechendes Ergebnis zu erzielen. Die Wahl zwischen einer gestielten und einer freien Lappenplastik hängt von der Größe und Lage des Defekts sowie dem Zustand des Patienten ab.
Die folgende Tabelle fasst die wesentlichen Unterschiede der beiden Haupttypen von Lappenplastiken zusammen, wie sie in einer vergleichenden Übersicht für Chirurgen dargestellt werden.
| Merkmal | Gestielte Lappenplastik | Freie Lappenplastik |
|---|---|---|
| Gefäßversorgung | Bleibt mit Ursprungsort verbunden | Vollständige Trennung und mikrochirurgische Neuverbindung |
| Operationsdauer | 1-2 Stunden | 4-8 Stunden |
| Beweglichkeit | Eingeschränkt durch Gefäßstiel | Unbegrenzte Positionierung möglich |
| Komplexität | Technisch einfacher | Erfordert Mikrochirurgie-Expertise |
| Erfolgsrate | 95-98% | 90-95% bei erfahrenen Teams |
Das Wichtigste in Kürze
- Heilung ist ein aktiver Prozess: Moderne Chirurgie greift gezielt in die Wundheilung ein, anstatt sie nur abzuwarten.
- Die richtige Umgebung ist entscheidend: Feuchte Wundheilung durch moderne Auflagen beschleunigt den Prozess und verbessert das Narbenergebnis.
- Der Körper liefert das beste Material: Techniken wie Gewebeexpansion und Lappenplastiken nutzen körpereigenes Gewebe für ästhetisch und funktionell überlegene Ergebnisse.
Mehr als nur Schönheit: Die lebensverändernde Kraft der rekonstruktiven Chirurgie
Rekonstruktive Chirurgie wird oft im Schatten ihres populäreren Pendants, der ästhetischen Chirurgie, wahrgenommen. Doch ihre Bedeutung geht weit über die reine Wiederherstellung von Form hinaus. Sie ist ein entscheidender Faktor für die Wiederherstellung von Funktion, Identität und psychischem Wohlbefinden. Nach schweren Unfällen, Verbrennungen oder Tumorerkrankungen ist es oft die rekonstruktive Chirurgie, die den Patienten die Rückkehr in ein normales Leben ermöglicht. Sie stellt die Fähigkeit zu essen, zu atmen oder zu greifen wieder her und gibt den Betroffenen ihr Gesicht und damit einen Teil ihrer Persönlichkeit zurück.
Ein herausragendes Beispiel ist die Brustrekonstruktion nach einer Krebserkrankung. Mit rund 70.000 Fällen im Jahr ist Brustkrebs die häufigste Krebsart bei Frauen in Deutschland, und für viele Betroffene ist der Verlust einer oder beider Brüste ein tiefgreifender Einschnitt in ihr Körperbild und Selbstwertgefühl. Die Möglichkeit, die Brust durch körpereigenes Gewebe oder Implantate wiederaufzubauen, ist für viele Frauen ein essenzieller Schritt zur Bewältigung der Krankheit.
Die weibliche Brust ist gerade in der jüngeren Generation ein Sinnbild für Selbstbestimmung und ihre Behandlung ein Weg zu einem verbesserten Selbstwertgefühl.
– Dr. Helge Jens, Präsident der DGÄPC und Facharzt für Plastische und Ästhetische Chirurgie
Die tiefgreifende psychologische Wirkung ist wissenschaftlich belegt. Eine Langzeitstudie der Ruhr-Universität Bochum bestätigte, dass nach rekonstruktiven Eingriffen über 88 % der Patienten ihre realistischen Ziele erreichten und signifikant mehr Lebensfreude, ein gesteigertes Selbstwertgefühl und eine verbesserte soziale Integration berichteten. Diese Zahlen belegen eindrucksvoll: Rekonstruktive Chirurgie heilt nicht nur Gewebe, sie heilt auch die Seele und gibt den Menschen die Kontrolle über ihr Leben zurück. Sie ist die ultimative Form der Heilungskunst, bei der handwerkliches Geschick und biologisches Verständnis zusammenwirken, um Leben zu verändern.
Wenn Sie vor einer komplexen Wundsituation oder einer notwendigen Rekonstruktion stehen, ist eine umfassende Beratung der erste und wichtigste Schritt. Suchen Sie das Gespräch mit einem spezialisierten Facharzt für Plastische und Rekonstruktive Chirurgie, um die für Sie beste Strategie zur Wiederherstellung von Form und Funktion zu erarbeiten.